Ernährungssicherheit kommt viel zu kurz

16.11.2022
Das Landwirtschaftliche Wochenblatt sprach mit dem Präsidenten des HBV, Karsten Schmal, über Ernährungssicherheit, die Pläne der Kommission zur Reduktion des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, über die Unsicherheit unter den Tierhaltern und die regionale Vermarktung.
Standpunkt
Hand mit Erde
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HBV-Präsident Schmal im LW-Gespräch

Beim Landeserntedankfest haben Sie geäußert, dass Sie noch unter dem Eindruck Ihrer Indienreise stehen. Sie sprachen von Menschenmassen und von großer Armut. Sie hatten auch Gelegenheit, den indischen Premierminister Narendra Modi zu hören. Was sind Ihre Schlüsse, die Sie mit Blick auf die heimische und internationale Landwirtschaft ziehen?

Karsten Schmal: Der Weltmilchgipfel, an dem ich teilnahm, hat für die indische Regierung einen hohen Stellenwert. Dies wurde allein durch die Anwesenheit von Premierminister Modi deutlich, aber auch in seinen Äußerungen. Für ihn ist es eine politisch existenzielle Frage, die Menschen satt zu bekommen. Indiens Bevölkerung wächst rasant, derzeit jährlich um etwa 13 Mio. Menschen. Für 2022 wird mit 1,41 Mrd. Menschen gerechnet. Über 140 Mio. Menschen leben komplett auf der Straße. Landwirtschaft spielt in Indien eine große Rolle mit 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sie ist aber sehr rückständig. Die Milch wird vielfach über kleine Sammelstellen gesammelt, oftmals jeweils nur Lieferungen von 2 Liter bis 120 Liter.

Die Menschenmassen, aber auch die immensen Umweltprobleme – überall in den Städten Plastikmüll, stark verschmutzte Flüsse – haben mich beeindruckt und gleichermaßen erschreckt. Ich habe auf dem Landeserntedankfest davon berichtet, weil ich darauf aufmerksam machen will, wie fundamental im größten Teil der Welt die Frage der Ernährungssicherheit ist, und sie bei uns in Europa offensichtlich untergeordnet ist, allenfalls als selbstverständlich hingenommen wird. Gleichzeitig werden wir die Probleme dieser Länder durch deren politische Instabilität und durch Migration noch stärker zu spüren bekommen. 

 

Die Ernährungssicherheit ist das Hauptargument des Berufsstandes bei der aktuellen Diskussion um den Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission, den Pflanzenschutzmitteleinsatz bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zu reduzieren und in sensiblen Gebieten ganz zu verbieten.

Schmal: Dieser Vorschlag der EU-Kommission ist weltfremd. Er wird zu einem beträchtlichen Ertragsrückgang führen. Dabei sind die Agrarmärkte jetzt schon extrem angespannt. Es ist sehr fraglich, ob wir uns in der EU künftig mit einer so drastischen Verordnung noch selbst ernähren können. Die Folge wäre, dass wir reiche Europäer durch unsere Nachfrage die Nahrungsmittel deutlich verteuerten, zum Schaden der Entwicklungsländer. Und, dass sich die Produktion in Drittländer verlagert, die die deutschen und europäischen Standards hinsichtlich Umwelt-, Klima- und Tierschutz nicht mal im Ansatz erfüllen können. Die Kommission räumt ja selbst Produktionsrückgänge ein, eine umfassende Folgenabschätzung zu ihrer Verordnung hat sie aber immer noch nicht geliefert. Bei einem Totalverbot in sensiblen Gebieten kann Getreide nur mit hohen Ertragsverlusten, Obst oder Wein kaum noch angebaut werden. Die Umweltleute in der Kommission zeigen sich beim Thema Ernährungssicherheit offenbar unbeeindruckt. Aber ich denke, dass dieses Argument ein großes Gewicht hat. Die EU-Agrarminister haben ja mehrheitlich massive Einwände, leider nicht unser deutscher Landwirtschaftsminister Özdemir. Dabei stellen wir uns als Bauernverband nicht gegen eine Reduzierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes in realistischen Dimensionen.

 

Diese hat der Hessische Bauernverband ja im Rahmen der Vereinbarung Landwirtschaft und Naturschutz mit der hessischen Landesregierung und den Umweltverbänden zugesagt.

Schmal: Genau: Die Kooperationsvereinbarung in Hessen sieht eine Reduktion um bis zu 30 Prozent der eingesetzten Pflanzenschutzmittel bis zum Jahr 2030 vor. Das ist schon ein ambitioniertes Ziel. Die Reduktion ist aber nicht starr, sondern wird in ihrer Wirkung fortwährend evaluiert werden. Das macht deutlich: Pflanzenschutzmittelreduktion ist eines von vielen Mitteln zum Schutz der Artenvielfalt, kein unbewegliches Ziel. Entscheidend ist bei der Vereinbarung mit der Landesregierung aber der kooperative Ansatz bei der Umsetzung der Umweltmaßnahmen. Und dass die Landwirte für die Einschränkungen einen finanziellen Ausgleich erhalten. Die Verordnung aus Brüssel mit ihren pauschalen und plakativen Forderungen passen mit unserem Kooperationsmodell in Hessen, in dem wir vor Ort angepasste Maßnahmen anwenden wollen, überhaupt nicht übereinander. Das Gleiche gilt für vergleichbare Programme in Niedersachsen oder Baden-Württemberg.

 

Wie geht es denn jetzt mit der Kooperation in Hessen weiter?

Schmal: Wir werden voraussichtlich noch in diesem Jahr den Fachausschuss Biodiversität als Arbeitsebene des Runden Tischs Artenschutz beim Kuratorium für das landwirtschaftliche Beratungswesen konstituieren. Er ist paritätisch besetzt mit dem Berufsstand und den Umweltverbänden. Das heißt, die Arbeit geht hier in Hessen erstmal weiter. 

 

Im Zusammenhang mit den Reduktionsplänen der EU-Kommission gibt es ja nach wie vor Unsicherheiten, welche „sensiblen“ Flächen überhaupt betroffen sind. Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir hat kürzlich erklärt, dass die EU-rechtlich gesicherten Schutzgebiete, also FFH und Vogelschutzgebiete, im Fokus stehen und spezielle nationale Schutzgebietskategorien wie die Landschaftsschutzgebiete ausgeklammert werden sollen. Wie bewerten Sie das?

Schmal: Wir lehnen diesen umfassenden Bezug auf bestehende Flächenkulissen mit pauschalen Verboten durch Verordnung komplett ab. Ja, wir stehen zur Reduktion von Pflanzenschutzmitteln, teilweise auch in Schutzgebieten. Aber nicht anhand bestehender Schutzgebietskulissen, die eigentlich ganz anderen Schutzzwecken verschrieben sind. Wir verlangen kooperative und intelligente Ansätze, die den Verhältnissen vor Ort gerecht werden und einen Ausgleich für den Aufwand, den die Landwirtschaft zu tragen hat. Bei allem muss angesichts der Weltlage die Ernährungssicherung – auch die Sicherung der Erntequalitäten – einen viel größeren Stellenwert bekommen.

 

Auch die neue GAP steht wegen Maßnahmen, die sich auf die Menge an produzierten Agrargütern auswirkt, in der Kritik, insbesondere die Konditionalität mit den GLÖZ-Standards Fruchtwechsel und Brachflächen. Sind Sie zufrieden mit dem Aufschub der beiden Regelungen?

Schmal: Ich halte generell nichts davon, Flächen brach liegen zu lassen. Wir können mit guten Pflanzenbeständen mehr für die CO2-Bindung und für Klimaschutz tun und meiner Meinung nach mit intelligenteren Maßnahmen beispielsweise nach dem Vorbild des niederländischen Modells mehr für den Artenschutz als mit pauschaler Flächenstilllegung. Die Aussetzung der beiden genannten GLÖZ-Standards ist ein Anfang, der in die richtige Richtung geht. Aber auch über 2023 hinaus wird hier ein Umdenken stattfinden müssen.

 

Ein Hauptkritikpunkt des Berufsstandes an der GAP ist neben den verschärften GLÖZ-Standards auch die fehlende Möglichkeit, insbesondere für intensive Grünlandbetriebe, zusätzliche Einnahmen aus den Eco-Schemes zu erzielen.

Schmal: Die Basisprämie liegt mittlerweile auf einem niedrigen Niveau von etwa 150 Euro pro Hektar. Deshalb sollte ja ein Teil des Rückgangs durch zusätzliche Einkommen aus den neuen freiwilligen Agrarumweltmaßnahmen der 1. Säule, den Eco-Schemes, ausgeglichen werden. Alle für Grünlandbetriebe beantragbaren Eco-Schemes zielen jedoch auf die Extensivierung ab. Etwa die Maßnahme, das komplette betriebliche Dauergrünland zu extensivieren, kommt für einen konventionellen Grünlandbetrieb nicht in Frage. Wir müssen ausreichend energie- und eiweißreiches Futter für unsere Tiere erzeugen können. Ich gehe davon aus, dass für intensive Grünlandbetriebe ein Drittel der bisherigen Prämienhöhe wegfällt. Einige werden nach betriebswirtschaftlicher Kalkulation möglicherweise ganz aus dem Förderverfahren aussteigen müssen. Daran kann niemand Interesse haben.

Am meisten ärgert es mich, dass sinnvolle und bewährte hessische Agrarumweltmaßnahmen wie die vielfältige Fruchtfolge durch obendrein schlecht bezahlte alternative Eco-Schemes ausgehebelt werden.

Wir als Bauernverband haben schon frühzeitig konstruktive Umsetzungsvorschläge für die GAP unterbreitet, so auch zu den Eco-Schemes. Wir haben vorgeschlagen, die Eco-Schemes als „Gemeinwohlzuschlag“ für die gesamte förderfähige Fläche eines jeden Betriebes anzubieten. Die Landwirte könnten so ihren betrieblichen Maßnahmenmix aus einem einfach und praxistauglich gestalteten Leistungskatalog zusammenstellen und damit die Förderung für die komplette Betriebsfläche abrufen. Ein Betrieb mit 100 Hektar Fläche erhielte so ein Förderbudget von etwa 6 000 Euro jährlich, welches obendrein gesichert wäre.

 

Der deutsche Strategieplan ist erst kürzlich erneut bei der Brüsseler Kommission eingereicht worden. Schon im nächsten Jahr werden die Regelungen gelten. Es wird unter anderem eine Reihe von neuen Terminen und Anbaueinschränkungen geben, die künftig bei der Flächenbestellung zu beachten sind. Welche Rückmeldungen haben Sie von den Landwirten und gegebenenfalls von den Landwirtschaftsämtern vor Ort?

Schmal: Die Umsetzung der GAP wird noch viel komplexer als bisher und viel betriebsindividueller. Manch einer wird mit seinem Schlepper auf den Acker fahren und sich plötzlich fragen, darf ich das überhaupt zu diesem Zeitpunkt? Es gibt künftig noch mehr Termine, die eingehalten werden müssen, zum Beispiel bei den Brachen, bei der Winterbegrünung und bei vielem mehr. Es ist mir ein Rätsel, wie das alles kontrolliert werden soll. Vor allem müssen die nationalen Verordnungen noch in den Ländern in entsprechendes Durchführungsrecht umgesetzt werden. Bei den Landwirten herrscht großer Unmut und Frust, aus den Ämtern, deren Mitarbeiter jetzt unter einen enormen Zeitdruck gesetzt werden, wird mir die gleiche Lage bestätigt. 

 

Sie beklagen seit Jahren den starken Rückgang der Tierhaltung. Was wäre aus Ihrer Sicht erforderlich, um die Tierhaltung zu stabilisieren?

Schmal: Das Magdeburger Urteil zur Sauenhaltung hat gezeigt, dass selbst Ställe, die bis dato nach gesetzlichen Standards gebaut wurden, mittelfristig keinen Bestand haben. Diese Unsicherheit, wie die Ställe künftig aussehen müssen, ist seitdem unter den Tierhaltern, insbesondere den Schweinehaltern, sehr groß. Ein Stall muss ja mindestens 20 Jahre genutzt werden können, damit sich die Investition rechnet. Um die von der Politik und der Gesellschaft geforderten höheren Tierwohl-Standards in den Ställen umzusetzen, sind einerseits hohe Investitionen erforderlich, aber auch dauerhafte Entlohnung des höheren Aufwandes. Ich sehe derzeit nicht, dass die Bundesregierung eine dauerhafte Finanzierung dafür auf den Weg bringt. Die Situation ist für die Tierhalter frustrierend. Es werden höhere Standards in Deutschland gefordert, aber nicht finanziert. Damit schießen wir uns aus dem europäischen Wettbewerb.

 

Die Erzeugerpreise für Milch und Fleisch sind ja derzeit nicht schlecht. Aufgrund der weltweiten Knappheit und der weiter wachsenden Weltbevölkerung gibt es eigentlich gute Perspektiven für die Landwirtschaft. Wie sehen Sie das?

Schmal: Die derzeit guten Preise für Milch hatte ich so nicht erwartet. Die Milchviehhalter können derzeit angemessene Erlöse erzielen. Allerdings werden sie zu einem großen Teil von den stark gestiegenen Kosten für Futtermittel, Treibstoff, Energie und so weiter aufgefressen. Ich befürchte, dass die Kosten langfristig hoch bleiben. Dann kann man nur hoffen, dass die Erlöse vom Milchverkauf ebenfalls ihr Niveau halten. 

Bei den Schweinehaltern kommen die gestiegenen Kosten noch stärker zum Tragen, weil die teuren Futtermittel einen hohen Anteil an den Kosten haben. Der Rückgang der Schweinefleischpreise der vergangenen zwei Wochen hat leider wiederum zu ruinösen Bedingungen am Schweinemarkt geführt und verlängert die schon jahrelang andauernde Durststrecke der Schweinemäster und der Ferkelerzeuger. Zusammen mit der fehlenden Planungssicherheit hat dies zu dem starken Rückgang der Zahl der Schweinehalter in Hessen geführt. Bei Mastschweinen innerhalb der letzten zehn Jahre um die Hälfte, bei Sauenhaltern um knapp zwei Drittel.

 

Die Strukturen der regionalen Erzeugung und Vermarktung hat sich in Hessen in den letzten Jahren recht gut entwickelt, auch wenn die Vermarktung regional erzeugter Produkte jetzt durch die allgemein stark gestiegenen Lebenshaltungskosten einen Dämpfer erhalten. Wie ist Ihre Wahrnehmung?

Schmal: Wir hatten zu Beginn der Corona-Pandemie eine höhere Nachfrage nach regional erzeugten Lebensmitteln. Die Menschen konnten mehr Geld dafür ausgeben, weil sie ansonsten nicht in Restaurants essen gehen und in Urlaub fahren konnten.

Das sieht jetzt anders aus. Durch den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten, unter anderem für Heizung und Treibstoff, sparen die Menschen jetzt bei Lebensmitteln. Das kann man den Verbrauchern nicht vorwerfen. Die Vermarktung von regionalen Produkten kommt dadurch ins Stocken. Das sagen mir sowohl unsere Partner aus dem Lebensmitteleinzelhandel als auch direktvermarktende Betriebe.

Gleichwohl haben sich die Strukturen in Hessen schon verbessert. Wir haben jetzt beispielsweise eine große Schlachtstätte in Schwalmstadt, die auch größere Mengen an regional erzeugtem Schweinefleisch mit entsprechendem Label in den Lebensmittel­einzelhandel liefern kann. Dank dem Engagement der Betreiberfamilie Helwig und der Förderung durch das Land. Darüber hinaus sind wir im stetigen Austausch mit dem Lebensmitteleinzelhandel wie Rewe Mitte und Edeka Hessenland, die sich für regionale Lebensmittel einsetzen. Wie gesagt, die Lage bleibt derzeit schwierig. Ich glaube aber, dass sich wegen der immer weitgehenderen Einschränkungen beim Tiertransport und der stark gestiegenen Spritpreise die regionale Vermarktung mit ihren kurzen Wegen behaupten wird.

 

Im nächsten Jahr steht in Hessen die Landtagswahl an. Was wäre Ihre Hauptforderung an die Parteien?

Schmal: Wir brauchen mehr landwirtschaftlichen Sachverstand und mehr Bäuerinnen und Bauern im Parlament. Außerdem sollte die CDU, wenn sie erneut an die Regierung kommt, die Leitung des Agrar- und das Umweltressort nicht anderen Parteien überlassen.

Mit HBV-Präsident Schmal sprach Cornelius Mohr

 

Karsten Schmal

Karsten Schmal

Präsident Hessischer Bauernverband

In Sachsenhausen, ganz in der Nähe des Edersees, bewirtschaftet Karsten Schmal einen Futterbaubetrieb mit 200 Milchkühen und 230 Hektar landwirtschaftlicher Fläche. Nach seiner Ausbildung zum Landwirt und Agrartechniker studierte er an der Fachhochschule Südwestfalen in Soest Landwirtschaft. Bis 2020 war er langjähriger Vorsitzender des Kreisbauernverbandes Waldeck. Schon vor Antritt des KBV-Vorsitzes war er kommunalpolitisch aktiv. Er ist weiterhin tätig in Molkereigremien sowie in der Jagdgenossenschaft und bei den Waldinteressenten. Karsten Schmal ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. 2014 wurde er zum Vizepräsidenten und am 4. Dezember 2015 zum Präsidenten des Hessischen Bauernverbandes gewählt. Außerdem ist er seit 2018 Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes und Vorsitzender des DBV-Fachausschusses Milch.